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Datum
25.5.2020
Autor
Stiftung Verbundenheit

„Es ist die Aufgabe einer Politik für die deutschsprachige Gemeinschaft, ein möglichst plurales Bild Deutschlands zu vermitteln“

Frau Prof. Dr. Braig ist Universitätsprofessorin für Politikwissenschaft am Lateinamerika-Institut (LAI) der Freien Universität Berlin. Neben ihren zahlreichen Projekt- und Gutachtertätigkeiten (u. a. für GIZ, DAAD, Auswärtiges Amt) forscht sie zu Transformations- und Ungleichheitsthemen im lateinamerikanischen Kontext. Seit 2018 begleitet sie das Argentinien-Projekt der Stiftung Verbundenheit (SV) als wissenschaftliche Beraterin.

Prof. Dr. Marianne Braig © Institute for Latin American Studies, Freie Universität Berlin.

Prof. Dr. Marianne Braig © Institute for Latin American Studies, Freie Universität Berlin.

Stiftung Verbundenheit (SV): Frau Prof. Braig, die deutschsprachige Gemeinschaft in Südamerika galt lange Zeit als altmodisch, rückwärtsgewandt und dadurch wenig geeignet, um eine Partnerrolle für die Mittlerorganisationen der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik einzunehmen. War es eine kluge Entscheidung, eine gewisse Distanz zu wahren?

Prof. Dr. Braig: Zunächst ist es nicht so, dass es gar keine Kontakte zwischen deutschen Institutionen und den Auswanderergruppen gegeben hat. Neben den gut dokumentierten Verbindungen zu den zahlreichen deutschen Schulen gibt es spannende wissenschaftliche Arbeiten, die zeigen, dass sich die Deutschen Botschaften seit den 1950er Jahren durchaus mit den unterschiedlichen deutschsprachigen Auswanderergruppen befassen mussten – ob sie es wollten oder nicht. Aber natürlich ist es richtig, dass sie keine primären Adressaten der Arbeit der Mittlerorganisationen geworden sind. Ich kann das nachvollziehen. Dies hängt auch mit dem Phänomen einer Generation zusammen, die mit dem „Nationalen“ keine enge Beziehung hatte – schon gar nicht außerhalb Deutschlands. Und sicherlich hätten sich die Mittlerorganisationen auch noch lange bis in die 1970er und 80er Jahre in Konflikte begeben. Die Geschichtsaufarbeitung verlief ja gerade auch in Deutschland sehr langsam und konfliktiv. Dass man da von vorneherein auf Distanz gegangen ist, kann ich verstehen.

SV: Heute sehen wir, dass die deutschsprachige Gemeinschaft nach mehreren Generationenwechseln sehr viel offener und moderner geworden ist und in der Regel ein großes Interesse am heutigen Deutschland zeigt. Sollte Deutschland sich vor diesem Hintergrund nicht aktiver um eine Beziehung zu diesen Akteuren kümmern?

Prof. Dr. Braig: Ich glaube, es ist sogar notwendig. Deutschland möchte ja ein multilateraler, globaler Player sein. Es ist vollkommen klar, dass unser Land in bestimmten Kontexten der Außenpolitik eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten besitzt. Auch durch seine geschichtliche Prägung hat sich Deutschland deswegen auf ein ganz bestimmtes Feld der internationalen Politik begeben, nämlich auf das der soft power. Dabei geht es um Kultur und Sprache, aber auch um die Vermittlung gesellschaftlicher Normen und Werte. Dazu gehören meines Erachtens das Engagement für Toleranz gegenüber anderen, Klimaschutz und Nachhaltigkeit. Für die Verankerung dieser Werte braucht die Regierung Partner im Ausland. Es ist daher wichtig, sich mit zivilgesellschaftlichen Akteuren zu beschäftigen, vor allem wenn es sich um Menschen handelt, die explizit den Kontakt zu Deutschland suchen.

SV: Interessanterweise haben viele Menschen in Südamerika auch über den Kreis der deutschsprachigen Gemeinschaften eine enge Beziehung zu Deutschland entwickelt. In unserer Arbeit sehen wir ja, wie häufig sich das Deutschlandinteresse von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund überschneidet. Deutschland scheint bei vielen Südamerikanern überwiegend mit positiven Assoziationen verbunden zu sein.

Prof. Dr. Braig: In der Tat. Ich hatte das Glück, seit Ende der 70er Jahre viele Länder der Region kennenzulernen. Ich bin immer wieder auf Menschen gestoßen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen einen Bezug zu Deutschland entwickelt haben. Darunter waren Personen, die beispielsweise nach den blutigen Studentenprotesten 1968 in Mexiko ins politische Exil in die DDR geflohen sind. Anknüpfungspunkte sind aber auch über Bildungswege entstanden. Eine lateinamerikanische Kollegin ist beispielsweise auf eine Deutsche Schule gegangen, da ihr Vater sie in eine säkulare Bildungseinrichtung schicken wollte, von der er sich auch eine gewisse liberale Position versprach. Für sie ist diese Deutsche Schule ein Fenster in die Welt gewesen. Sie kommt noch heute regelmäßig mit wahrer Begeisterung nach Deutschland aus Liebe zur Kunst, Literatur und Musik. Insofern kann ich bestätigen, dass man den Bezug zu Deutschland auch bei zahlreichen Personen ohne Auswandererbiografie findet. Deswegen bin ich grundsätzlich auch dafür, die Erneuerung der Beziehung zur „deutschsprachigen“ Gemeinschaft in Südamerika breiter zu fassen. Es sollte nicht nur um die Einbindung von Menschen gehen, deren Familien irgendwann einmal migriert sind, sondern auch um die vielen Menschen, die einen besonderen Bezug zum modernen Deutschland entwickelt haben, aus welchen Gründen auch immer.

SV: Tatsächlich haben wir die Zielgruppe für unsere Tätigkeiten in Argentinien so breit wie möglich definiert. Unsere Jugendinitiative #JungesNetzwerk richtet sich beispielsweise an alle jungen Menschen, die in irgendeiner Weise einen Bezug zu Deutschland haben. Auch im Rahmen der Arbeit mit den oftmals folkloristisch geprägten deutsch-argentinischen Vereinen setzen wir auf eine gesellschaftliche Öffnung und vor allem auf eine thematische Diversifizierung der Vereinsaktivitäten. Sehen Sie einen Wiederspruch darin, „deutsche“ Kulturvereine dazu zu motivieren, sich beispielsweise für Umweltschutz, soziale Inklusion und Geschlechtergerechtigkeit einzusetzen?

Prof. Dr. Braig: Ganz im Gegenteil. Wir sprechen ja von Personen, die versuchen, sich in irgendeiner Weise zum deutschen Kontext zu verhalten – sei dieser sprachlich, kulturell oder normativ. Gesellschaftliche Normen, Phänomene oder Debatten schaffen dabei wichtige Anbindungsmöglichkeiten, die über die rein folkloristische Imagination Deutschlands hinausgehen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich liebe das Schloss Neuschwanstein und habe auch nichts gegen das Oktoberfest. Aber wenn das die einzigen Bezugspunkte zu Deutschland sind, hat dies doch eher einen begrenzten Wert.

SV: Können wir Umweltbewusstsein und Geschlechtergerechtigkeit denn als identitätsstiftende Werte Deutschlands bezeichnen?

Prof. Dr. Braig: Ich denke ja. Das sind Themen, die in unserer pluralen Gesellschaft eine wichtige Rolle spielen. Ich würde auch behaupten, dass es im demokratischen Parteienspektrum einen Konsens darüber gibt, ökologische und sozialverträgliche Politik zu betreiben. Die Frage der praktischen Ausgestaltung ist natürlich eine andere. Aber eins ist klar: Wir sprechen von globalen Herausforderungen, bei deren Bewältigung wir auf die Kooperation in der Welt angewiesen sind. Schon deswegen ist es sinnvoll, diese Themen im Rahmen der Auswärtigen Kulturpolitik zu vermitteln.

SV: Auch wenn wir die Diversifizierung der Vereinsaktivitäten aktiv fördern, fällt es vielen Kulturvereinen noch immer schwer, sich von den oftmals überholten folkloristischen Vorstellungen über Deutschland zu lösen. Besonders für Personen, die die deutsche Sprache nicht mehr sprechen und noch nie in Deutschland waren, sind traditionelle Feste und die deutsche Küche oftmals die einzigen Identifikationsmerkmale. Hat die im Ausland durchaus beliebte Folklore keinen Wert für die Auswärtige Kulturpolitik?

Prof. Dr. Braig: Das würde ich nicht sagen. Ich denke, man sollte jedoch klar unterscheiden. Wir dürfen die folkloristische Imagination nicht banalisieren, aber sie ist nicht das Leben dieser Menschen! Im Verein treffen sie sich, feiern, freuen und kennen sich. Sie verlassen diese Insel der Imagination aber regelmäßig, um in die Alltagswelt zurückzukehren. Es wäre daher klug, auch die Alltagswelt dieser Menschen mit Deutschland in Beziehung zu bringen und damit eine nachhaltigere Verbindung aufzubauen. Dies gilt im Übrigen auch für die deutsche Sprache. Ich kenne Personen, die auf eine Deutsche Schule gegangen sind und Deutsch sprechen, sich aber aufgrund ihres privaten oder beruflichen Umfeldes beispielsweise den USA viel näher fühlen. D. h., auch die Sprache ist nicht der Garant für das Aufrechterhalten einer Beziehung zu Deutschland. Bezogen auf die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik heißt das, wir sollten uns nicht darauf verlassen, dass Sprache und Kultur per se nachhaltige Verbindungselemente sind. Es gilt, eine Beziehung zur Lebenswelt dieser Menschen aufzubauen. Und damit kommen wir zurück auf das Thema der Vermittlung von Normen und Werten.

SV: Sprache und selbst die folkloristische Imagination können aber ein Schlüssel sein, um an die Alltagswelt anzudocken, richtig?

Prof. Dr. Braig: Teils, teils. Nehmen wir beispielsweise folkloristische Feste, Tänze und Brauchtümer, wie sie in manchen Vereinen imaginiert werden. Hier wird ein Resonanzkasten geschaffen, der eine positive Emotion erzeugt, weil man sich mit der Familie und mit Freunden trifft und eine Vorstellung von Heimat erlebt. Sehr wahrscheinlich könnte die Mehrheit der normalen Bundesbürger in Deutschland mit dieser imaginierten Festlichkeit nichts anfangen, weshalb es aus kulturpolitischer Sicht wenig Sinn macht, diese Imagination zu fördern. Aber das von der Imagination transportierte positive Gefühl kann ein Anknüpfungspunkt sein, um in eine komplexere und pluralere Interaktion mit Deutschland zu treten. Je facettenreicher und themenübergreifender die Interaktion, desto größer ist die Chance, unterschiedlichste Menschen und ihr Alltagsleben in Bezug zu Deutschland zu bringen. Daher möchte ich herausstellen: es ist die grundsätzliche Aufgabe der AKBP – und der Politik für die deutschsprachige Gemeinschaft in Lateinamerika im Speziellen –, ein möglichst plurales Bild Deutschlands zu vermitteln. Toleranz, Nachhaltigkeit und soziale Verantwortung sollten genauso mit Deutschland in Verbindung gebracht werden wie die deutsche Sprache, Musik, Kunst und Kultur.

SV: Konzeptionell verorten wir unsere Arbeit in Lateinamerika im Bereich der Civil diplomacy („Zivilgesellschaftliche Diplomatie“). Darunter verstehen wir, dass sich jeder Bürger mit Interesse oder Sympathie für Deutschland als ein „Brückenbauer“ oder „Kulturbotschafter“ einbringen kann. Das ist ein relativ neuer Ansatz der Auswärtigen Kulturpolitik Deutschlands. Denken Sie, dass zivilgesellschaftliches Engagement auch im Bereich der Diplomatie einen Mehrwert bringen kann?

Prof. Dr. Braig: Auf jeden Fall. Wir sehen ja heute schon, wie wichtig zivilgesellschaftliche Netzwerke im internationalen Kontext sind. Ich denke da beispielsweise an das Weltsozialforum in Porto Alegre oder an das solidarische Engagement der Kirchen. Auch die politischen Stiftungen stehen im regen Austausch mit zivilgesellschaftlichen Gruppen. Allerdings arbeiten die meisten dieser Institutionen oder Netzwerke zu ganz bestimmten Themenfeldern und auch nicht explizit im diplomacy-Kontext. In diesem Bereich einen zivilgesellschaftlichen Ansatz zu entwickeln, der Bürgern die Möglichkeit der aktiven Partizipation gibt, ohne dies auf bestimmte Parteilinien und Inhalte zu limitieren, halte ich für sehr produktiv. Ein solcher Ansatz bietet viele Möglichkeiten der Kooperation, sei dies im wissenschaftlichen, künstlerischen, sprachlichen, aber auch im wirtschaftlichen und politischen Bereich. Dies sollte allerdings nicht wertfrei geschehen. Wir müssen uns als Staat und Gesellschaft immer wieder fragen, welche Werte wir mit unserer Auswärtigen Kulturpolitik vermitteln möchten. Es muss klare Grenzen geben.

SV: Frau Prof. Braig, wir danken Ihnen für dieses Interview.

Das Gespräch führte Dr. Marco Just Quiles. Die Stiftung Verbundenheit publiziert im Rahmen ihres Südamerika-Projektes verschiedene Texte und Interviews. Dies ist das zweite Interview einer dreiteiligen Reihe zum Thema „Kulturelle Beziehungen zwischen Deutschland und Südamerika“.

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