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Datum
7.2.2024
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Online-Diskussion zum Thema „Argentinien nach der Präsidentschaftswahl – Wohin steuert Argentinien unter Präsident Javier Milei?“

Seit dem 10. Dezember 2023 ist der neue Präsident Argentiniens Javier Milei im Amt. Damit löste der in den deutschen Medien als ultraliberal und rechtspopulistisch beschriebene Ökonom und politischer Quereinsteiger die peronistische Links-Koalition seines Vorgängers Alberto Fernandez ab. Der damit verbundene Paradigmenwechsel in der argentinischen Politik nach Jahrzehnten der peronistischen Vorherrschaft war Thema der Online-Veranstaltung „Argentinien nach der Präsidentschaftswahl – Wohin steuert Argentinien unter Präsident Javier Milei?“. Was ist inmitten einer Wirtschaftskrise mit einer selbst für argentinische Maßstäbe dramatischen Inflationsrate von mehr als 200 % für die Entwicklung der deutsch-argentinischen Beziehungen zu erwarten? Wie werden sich Deutschland und die EU gegenüber den angekündigten Reformplänen der neuen Regierung positionieren, die allem voran massive Kürzungen der Staatsausgaben voraussehen und von Massenprotesten und einem Generalstreik begleitet werden? Was für Auswirkungen sind für die deutschsprachige Gemeinschaft und Ihre Arbeit vor Ort zu erwarten?

Moderiert von Dr. Marco Just Quiles, dem stellvertretenden Geschäftsführer und Projektleiter Lateinamerika der Stiftung Verbundenheit, diskutierten hierüber der Journalist und Chefredakteur des Argentinischen Tageblatts, Flavio Canilla, der ehemalige FAZ-Korrespondent und Wirtschaftsexperte, Carl Moses, die Vertreterin der deutschsprachigen Gemeinschaft, Silvia Saenger und die Unternehmerin Cristina Arheit-Zapp, Vorstandsmitglied der Deutsch-Argentinischen Industrie- und Handelskammer. Eingeleitet wurde die Veranstaltung durch ein Grußwort von Thomas Kropp, ehemaliger Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung Argentinien, ehemaliger Leiter der Konzernpolitik der Lufthansa Group, Mitglied der Lateinamerika-Gruppe des Wirtschafts- und Sozialausschusses der EU und Mitglied des Stiftungsrates der Stiftung Verbundenheit.

Thomas Kropp berührte in seinem die Veranstaltung einleitenden Grußwort zwei Themenkomplexe, die sich in der folgenden Diskussion als zentral erwiesen: zum einen übte er an der rechteinseitigen Darstellung Fernando Mileis als „ultraliberal“ und „rechtspopulistisch“ Kritik: während Mileis liberale Ausrichtung unstrittig sei, lehnte er die Charakterisierung „rechtspopulistisch“ ab und legte eine differenziertere Betrachtung des Präsidenten nahe, zumal Milei den fehlenden Mehrheiten in beiden Kammern nicht etwa durch Regierung per Dekret begegne, sondern den demokratischen Weg über Verhandlungen gehe, um Mehrheiten für Gesetzesvorhaben zu finden.  Zum anderen beschrieb er seine persönlichen Eindrücke der Wahlnacht vor Ort in Buenos Aires und hob darin die euphorische Reaktion insbesondere jüngerer Wähler hervor, die er mit der lange andauernden Phase der Hoffnungslosigkeit und Agonie vor allem angesichts Argentiniens permanenten Kampfs gegen die Inflation erklärte, vor deren Hintergrund Milei vielen geradezu wie ein Heilsbringer erscheine.

Wie Carl Moses ausführte, war es Argentinien im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Ländern nie gelungen, das Problem der Inflation zu lösen. Argentinien habe sich lange einen großen, ineffizienten Staatsapparat geleistet, ihn durch Geldschöpfung finanziert und sich so im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Ländern einer langfristigen Haushaltspflege mit einer unabhängig agierenden Zentralbank verweigert und versuchte, dem Inflationsproblem durch eine Bindung an den Dollar zu begegnen, was 2001 endgültig scheiterte, wodurch das Vertrauen in die eigene Währung schwand. Stattdessen fungierte der Dollar zunehmend als eine Art Schattenwährung.

Im Protest gegen das als „Omnibusgesetz“, sprich als gigantisches, zahlreiche Bereiche zugleich betreffendes Gesetzpaket, bezeichnete Reformvorhaben der neuen Regierung zur Überwindung der Wirtschaftskrise, das unter anderem massive Einschnitte in staatliche Leistungen jeglicher Art vorsieht, wurde der Generalstreik ausgerufen, es finden in Buenos Aires und weiteren Großstädten massive Proteste statt, gegen die Polizei und Behörden teils rigide vorgehen. Flavio Canilla warnte vor einer zu einseitigen Interpretation der Proteste und mahnte einen differenzierten Blick auf die Zustände an: zwar sähe man Reibungen auf der Straße, Milei besitze aber dennoch breite Unterstützung für seine Vorhaben. Argentinien wolle den Wechsel, man sei bereit, sich der von Misswirtschaft und Korruption geprägten Vergangenheit zu stellen und Einschnitte in Kauf zunehmen. Silvia Sänger, bestätigte dies durch eine Beschreibung der aktuellen Situation in der nordargentinischen Provinz Missiones, in der die Lage trotz bereits spürbarer Auswirkungen der Sparmaßnahmen - öffentliche Verkehrsmittelmussten ihren Dienst einstellen- ruhig sei: die Zivilgesellschaft sei bereit, dies im Kampf gegen die Inflation hinzunehmen.

Nach der ausführlichen Diskussion der aktuellen Lage und des historischen Kontexts, in dem Marei agiert rückte Moderator Just Quiles die Persönlichkeit und politische Agenda des neu gewählten Präsidenten Javier Milei in den Fokus der Diskussion: Technisch gesehen, sei Milei ein Liberaler, ein Anhänger der österreichischen Schule. Er verfolge eine Wirtschaftspolitik, in der die Politik lediglich den Rahmen für den Markt setzt, so Canilla. Mit seinem reduzierten, auf soziale Medien setzenden Wahlkampf habe er erfolgreich auf die junge Wählerschaft gesetzt. Mit seinem Label „no hay plata“ habe er genau den Nerv Generation getroffen, die angesichts der Inflation bereit waren, massive Kürzungen im Staatshaushalt hinzunehmen. Etwa 70% seiner Wähler waren 24 Jahre alt oder jünger.

Zentral für die Wahl war auch eine Neubewertung des Peronismus seitens der Wählerschaft: wie Mark Mosel bemerkte habe die Wählerschaft die Peronisten nun als Verantwortliche für die derzeitige Krise gesehen. Auch die Opposition habe nicht überzeugt, was einem „Antipolitiker“ und Neueinsteiger zum Sieg verholfen hat. Er habe während des Wahlkampfes eine „Marke“ geschaffen, die sich von der Person im Amt dahingehend unterscheide, dass Milei ein Pragmatiker sei, der zwar eine feste Ideologie besitze, jedoch im Gegensatz zu dem nach außen projizierten Bild verhandlungsbereit sei. Er verfüge mit seinem Plan des drastischen Sparens in über eine verständnisvolle Mehrheit, so Cristina Arheit, allerdings sei das Verständnis für seine Maßnahmen auf lange Sicht wohl an den Erfolg in der Bekämpfung der Inflation gekoppelt.

Abschließend wurde das Augenmerk auf die außenpolitischen Konsequenzen und Erwartungen des Machtwechsels gelegt: Gegenüber der Außenpolitik seiner peronistischen Vorgänger vollzog Javier Milei eine 180 Grad-Wende: Die peronistische Vorgängerregierung hatte sich stark an China orientiert; Milei verkündete im Wahlkampf den „cut“ mit China. Er sieht die USA als Argentiniens wichtigsten außenpolitischen Partner und bemüht sich um enge Beziehungen zu Israel. Carl Moses stellte jedoch hierzu fest, dass sich Milei im Amt abermals als pragmatisch erweist: er werde an der Beziehung zu China als dem derzeit wichtigsten Handelspartner Argentiniens festhalten. Gleiches gelte für Brasilien. Es sei mit einer starken Westorientierung zu rechnen, die für Europa und Deutschland ein Fenster öffne. Dies habe sich an der Bereitschaft gezeigt, das EU-Mercosur-Abkommen zu unterzeichnen, auch wenn dies letztlich an Frankreichs fehlender Zustimmung scheiterte. „Er ist absolut pragmatisch (….) Hört nicht, was er sagt, sondern schaut, was er macht!“

Für die deutsche Wirtschaft ergäben sich so definitiv Chancen stellte Cristina Arheit fest. Argentinien verfügt über dringend benötigte Rohstoffe wie Lithium und vor allem Grüne Energie in Form von Wasserstoff. „Deswegen ist es schade, das Deutschland und Europa hier nicht viel aggressiver und viel schneller reagieren.“ Es fehle der politische Wille. Argentinien sei als Energielieferant vor allem deswegen interessant, da man eine gemeinsame Wertebasis habe, die zum Nährboden für langfristige Geschäfte werden könne.

Schwieriger ist es, Milei aus Sicht eines liberalen Wertekanons zu beurteilen: hier zeigt er sich sehr widersprüchlich. So beurteilen ihn die Medien in Europa als „ultraliberal“, „ultrakonservativ bis „rechtspopulistisch“. Er spricht sich für die gleichgeschlechtliche Ehe aus, befürwortet gleichzeitig ein striktes Abtreibungsverbot; er propagiert eine Nulltoleranz-Politik gegenüber Kriminalität und möchte das Waffenrecht liberalisieren; relativiert die Verbrechen der argentinischen Militärdiktatur und bestreitet die Existenz des menschengemachten Klimawandels. Hier müsse man wiederum den Pragmatiker sehen, so Flavio Canilla. Viel wichtiger sei es, jetzt das „window of opportunity“ zu nutzen. Es fände gerade „das spannendste Experiment in politischer Kultur, die politische Neuerfindung eines Landes statt“. Das solle man im eigenen Interesse nah begleiten, um die bereits genannten Potentiale nutzen zu können.

Die Diskussion war und ist auf dem Facebook-Kanal @stiftungverbundenheit zu sehen sowie auf Youtube.

Wir danken allen Diskussionsteilnehmern herzlich für ihre Mitwirkung und ihr Engagement!

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