Exklusiver Gastbeitrag von Werner Sonne,
Journalist, Buchautor und Kuratoriumsmitglied der Stiftung Verbundenheit
Über dem Kibbuz kreist eine Drohne, der Lärm von Düsentriebwerken ist zu hören, später auch Gefechtslärm. Der Kibbuz Be'eri liegt nur wenige Kilometer vom Gaza-Streifen entfernt. Am 7. Oktober 2023 ist die Hamas eingedrungen und hat hier ein Blutbad angerichtet, 132 Menschen wurden abgeschlachtet, Dutzende verschleppt, Häuser wurden verwüstet und abgebrannt. Insgesamt hat die Terrororganisation an diesem Tag 1200 Israelis grausam umgebracht, 250 wurden nach Gaza entführt.
Vor uns steht Yuval Haran, er ist Ende 30, wirkt ruhig und überlegt. „Ich will keine Rache“, sagt er. Dabei würde man das verstehen können. Denn die Hamas hat seinen Vater ermordet, neun Familienmitglieder wurden nach Gaza verschleppt, sechs, darunter seine Mutter, seine Schwester und ihre Kinder nach 49 Tagen bei einem Gefangenenaustausch freigelassen. Alle übrigen gelten als tot. Er selbst und seine Partnerin haben überlebt, weil sie an diesem schrecklichen Tag nicht im Kibbuz waren. Doch den Rachegedanken weist Yuval Haran zurück. Das mache sein Leben nicht besser.
Haran kannte praktisch alle Einwohner. Er war der IT-Manager in dem Kibbuz, der 1946 bereits gegründet wurde und in dem viele liberale Menschen mit guten Kontakten zu den Palästinensern in Gaza lebten. Erst langsam kehrt das Leben nur zurück. Über 100 der einst 1100 sind wieder da. Die meisten Überlebenden warten noch in einem Nachbarkibbuz oder in anderen Orten, viele kommen aber zur Arbeit zurück, denn die wichtige Druckerei als Arbeitgeber funktioniert wieder.
Yuval Haran hat auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Er erzählt, dass sein Großvater 1936 aus Stuttgart eingewandert ist. Er selbst sei mehrfach dagewesen, habe die Heimat seines Vorfahren besucht.
Unter den Opfern des Hamas-Überfalls sind nicht nur Menschen aus Be´eri. Von den 58 Geiseln, die noch festgehalten werden, haben 9 einen deutschen Pass, nur noch vier leben wahrscheinlich noch.

Kurz nach unserem Gespräch kommt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nach Be´eri, zusammen mit dem israelischen Präsidenten Herzog. Auch die Ehepartnerinnen sind dabei. Sie alle sind seit langem eng befreundet. Dass Steinmeier kommt, findet Yuval Haran gut. Das zeige, „dass wir nicht alleine sind“.
Der Bundespräsident war schon bald nach dem Hamas-Überfall im Herbst 2023 in Be´eri. Jetzt ist zurückgekommen. Offizieller Anlass ist die Grundsteinlegung für ein neues Kulturzentrum, das alte hatte die Hamas niedergebrannt. Deutschland unterstützt das mit sieben Millionen Euro. Die beiden Präsidenten-Ehepaare legen Kränze nieder und verharren, die Arme umeinander gelegt, still.
„Ihr Schicksal ist eine offene Wunde“, sagt der Bundespräsident den Menschen in Be´eri über die Geiseln. „Deutschland vergisst sie nicht, ich vergesse sie nicht. Unsere Stimme wird nicht schweigen, solange sie nicht zurückgekehrt sind“. Das ist es, so klingt es aus den Gesprächen heraus, was die Menschen hier hören möchten. Nicht aufhören für ihre Freilassung zu kämpfen, gegenüber der Hamas, den Vermittlern, aber auch gegenüber der israelischen Regierung, die nach Einschätzung vieler Geisel-Familien die falschen Prioritäten setzt und im Gaza-Krieg erst die Hamas völlig zerstören will.
Der Bundespräsident macht das zu einem Schwerpunkt seines Israel-Besuch und nimmt dabei auch Konflikte mit seinen offiziellen Gastgebern in Jerusalem in Kauf.

Steinmeier hat eine schwierige Aufgabe. Anlass seines Israel-Besuches ist eigentlich der 60. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Deutschland und Israel. Das würdigt er entsprechend. Aber er kommt in Kriegszeiten, zweimal muss er im Hotel in die Schutzräume, weil es Raketenalarm gibt, die Netanjahu-Regierung hat noch intensivere Angriffe in Gaza angekündigt und setzt sie auch um, um maximalen Druck auf die Hamas auszuüben und die Terrororganisation zu zerschlagen, während die Vereinten Nationen vor einer Hungerkatastrophe warnen.
Nach einem Gespräch mit Netanjahu erklärt er, dass die Befreiung der Geiseln „oberste Priorität haben muss“. Außerdem habe er dem Emir von Katar einen Brief geschrieben, um ihn zu bitten, „die Bemühungen um die Freilassung der Geiseln noch einmal zu verstärken.“
Kurz vor seinem Abflug telefoniert er noch mit Tali Berman, der Mutter der Zwillinge Gali und Ziv, beide Mitte 20 und noch in der Hamas-Geiselhaft, beide sind deutsche Staatsangehörige. Steinmeier versichert, dass „Deutschland in den Bemühungen um die Freilassung ihrer Söhne nicht nachlassen wird“.
Der Bundespräsident macht sich demonstrativ zum Schutzpatron der Menschen mit deutschen Wurzeln in Israel, wie etwa Yuval Haran in Be´eri mit seinem deutschen Großvater. Das werden auch diejenigen mit Aufmerksamkeit aufgenommen haben, die nicht unmittelbar Opfer wurden, die nicht direkt von dem Leid der Familien betroffen sind, die sich aber ebenfalls zu der deutschen Heimat ihrer Vorfahren bekennen. Und das sind viele. Auf etwa 200 000 wird ihre Zahl geschätzt.
Mit ihnen und ihrer offiziellen Vertretung, der „Vereinigung der Israelis mitteleuropäischer Herkunft“, die sich populär die „Jeckes“ nennen, hat die Stiftung Verbundenheit mit den Deutschen im Ausland vor kurzem einen Kooperationsvertrag geschlossen mit dem Ziel, eine Brücke nach Israel zu schlagen und gemeinsame Projekte anzuschieben. Dazu wurden bereits auch intensive und erfolgversprechende Kontakte mit der Bundesregierung, dem Bundestag und anderen Organisationen wie etwa dem Zentralrat der Juden in Deutschland aufgenommen. Ein erstes Pilotprojekt soll noch in diesem Jahr die Grundlage für eine mögliche Förderung durch die neue Bundesregierung schaffen.
Am 28. Oktober 2025 soll dazu an der Universität Haifa ein „Jeckes“-Museum eröffnet werden, dass die Bundesregierung mit einer Million Euro unterstützt. Dabei soll der Beitrag der deutschen Einwanderer bei der Entwicklung des Staates Israel dargestellt werden, die der Shoah entkommen konnten. Vielleicht wird eines Tages auch das Leid der deutschen Hamas-Geiseln darin einen Platz bekommen.
Die Stiftung Verbundenheit mit den Deutschen im Ausland dankt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier für seinen so nachdrücklichen Einsatz für die Freilassung der deutschstämmigen Geiseln und seine große Anteilnahme am Leid der betroffenen Familien, den er durch seinen Besuch im Kibbuz Be´eri erneut deutlich gemacht hat. Die Stiftung drückt ihre Solidarität mit den Geiseln aus, die noch immer in der Gewalt der Hamas sind und hofft auf ihre baldige Rückkehr.

Werner Sonne
Journalist und Schriftsteller. Werner Sonne ist Journalist und Schriftsteller. Er war langjähriger ARD-Korrespondent in Bonn, Hamburg und Berlin, sowie Studioleiter in Washington und Warschau. Zuletzt leitete er das Berliner Büro des ARD-Morgenmagazins. Für Phoenix moderierte er die Sendung „Schwerpunkt“. Er ist Co-Autor des Buches „Schuld und Leid“ sowie weiterer Sachbücher zu Themen der Außen- und Sicherheitspolitik und historischer Romane. Er ist Vorstandsmitglied der Deutschen Atlantischen Gesellschaft.